1980 Bern mein Anfang



Teil Eins
Es gibt Morgen, die bleiben wie festgefroren. Ich wache auf, und alles ist, wie es gestern war – wie vorgestern – wie schon so oft. Es erinnert mich an Bill Murray in Und täglich grüßt das Murmeltier: derselbe Ort, dieselben Gesichter, derselbe Anfang. Im Film gibt es einen Regisseur, der irgendwann „Schnitt“ ruft und die Szene weiterdreht. In meinem Leben gab es keinen. Ich stand selbst vor der Kamera, spielte meine Rolle – und wusste nicht, dass ich die Szene Tag für Tag wiederholte.
Damals hatte ich keine Ahnung, dass ich in einer Schleife steckte. Erst vierzig Jahre später sollte mir der Satz in den Sinn kommen: „Die Endlosschleife endet erst, wenn man selbst der Regisseur wird.“ Doch damals war ich nur der Schauspieler, der glaubte, das Leben gehe einfach so weiter.
Als Jugendlicher glaubte ich, die Welt funktioniere nicht. Ich war überzeugt, Rebellion sei der einzige Weg. Ronja lacht trocken: „Ja, Ben – das ewige ‚Alles ist falsch‘. Du hättest ein Plakat tragen können: Revolution jetzt!“ Dass es Ordnung braucht, um Ordnung zu schaffen, konnte ich nicht sehen. Sylvia spricht leise: „Du hast die Struktur gehasst, weil du nicht wusstest, wie sie dir helfen könnte.“
Heute weiß ich, dass darin Wahrheit liegt – und ich erkenne, wer ich durch diese Geschichte geworden bin. Nicht um zu trauern, sondern um zu verstehen. Ronja: „Also kein Held, kein Märtyrer – sondern einer, der endlich kapiert.“ Ich glaube heute, dass nicht nur wir selbst, sondern auch unsere Umgebung – und die Wünsche, die sie in uns weckt – Regisseure sind. Sylvia: „Und genau das macht die Geschichte erst komplett.“
Wenn ich zurückblicke – vierzig Jahre zurück – sehe ich den Tag, an dem die Grundausbildung vorbei war. Wir feierten den Start ins Leben, als hätte das Leben auf uns gewartet. Militär – der erste Abschnitt war geschafft. Es würden noch viele weitere Jahre in Uniform folgen, aber der Anfang war getan. Und mit zwanzig, endlich volljährig, war das nicht nur ein militärischer, sondern auch ein persönlicher Schritt ins Leben.
So bewaffnet – nicht nur im übertragenen Sinn – nahm ich das Gewehr und die ganze Ausrüstung mit nach Hause. Wie die meisten deponierte ich sie bei meinen Eltern, als wäre es selbstverständlich, dass sie dort auf mich warteten. Mit einer Tasche und einer leisen Ahnung setzte ich mich auf mein Motorrad und fuhr nach Bern. Damals war es einfach nur eine Fahrt in die Hauptstadt. Heute weiß ich, es war der Beginn einer Geschichte, deren Ende ich mir nicht hätte vorstellen können.
Teil 2
Vielleicht ist das der Trick des Lebens:
Es lässt dich glauben, eine Geschichte sei abgeschlossen –
nur um dich wieder an denselben Punkt zu setzen.
Bis du endlich merkst, dass der Regisseur nicht irgendwo da draußen sitzt.
Sondern du selbst bist.
Du glaubst jetzt, das war’s.
Aber das ist nur, weil du das Ende sehen willst.
Ich sage dir: Es ist der Anfang.
Deshalb frage ich dich:
Was möchtest du weiterhin lesen?
Willst du wissen, was dazu geführt hat,
dass es sich lohnte, diese Geschichte weiterzulesen?
Ich warte auf dein inneres Nicken.
Warum Bern mein Ziel war?
Vielleicht aus Tradition.
Vielleicht aus dem Traum, der in mir wuchs: „Die Endlosschleife endet erst, wenn man selbst der Regisseur wird.“
Vielleicht auch, weil ich es nicht besser wusste.
Es war ein Wunsch, der mich schon als Kind begleitet hatte.
Und als ich dann erwachsen war – zumindest auf dem Papier – erfüllte ich mir diesen Traum.
Ronja lacht: „Auf dem Papier? Ben, das ist brutal ehrlich.“
Sylvia schüttelt den Kopf, sanfter: „Erwachsenwerden ist nicht automatisch Erwachsensein.“
Ich zucke die Schultern. „Vielleicht. Aber ich hatte den Stempel. Und den Schlüssel zu meinem Motorrad.“
Ob es etwas bringen würde, wusste ich nicht.
Es konnte alles bedeuten. Oder nichts.
Ronja: „Also war es ein Glücksspiel?“
Ich: „Vielleicht. Aber manchmal ist ‚alles oder nichts‘ der einzige Einsatz, der sich lohnt.“
Schon jung sagte ich mir: „Wenn du deinen Schatten kennst, gehst du zum Licht.“
Vielleicht ahnte ich damals, dass ich genau danach unterwegs war.
Bern, Marktplatz.
Mein erster Kontakt zur Stadt war kein Denkmal, keine Sehenswürdigkeit – sondern ein Tisch im Freien.
Eine Runde junger Menschen saß dort vor einem Restaurant, das Stimmengewirr mischte sich mit dem Klirren von Gläsern.
Ich blieb kurz stehen, fragte schließlich: „Darf ich mich dazusetzen?“
Ein paar Blicke wanderten zu mir, prüfend, neugierig.
„Sicher“, sagte einer. „Aber… wo kommst du denn her?“
Es dauerte keine zwei Sätze, bis mein Dialekt auffiel.
„So redet doch keiner hier“, lachte eine junge Frau.
„Das ist… eigenartig“, ergänzte ein anderer – und grinste, als wollte er sehen, ob ich mich wehre.
Sie flachsten, ich grinste zurück.
Ronja flüstert: „Willkommen in Bern, Ben – du bist das Abendprogramm.“
Sylvia: „Und du hast gerade gelernt, dass ein Tisch in der Sonne mehr über eine Stadt verrät als jeder Reiseführer.“
Mein Blick wanderte über den Platz. Am Nachbartisch hörte ich Fetzen eines Streits.
Eine schöne Frau im Sommerkleid, die ich nicht kannte, sprach mit schneidender Stimme.
Gegenüber lehnte ein Mann, vielleicht um die fünfzig, im Anzug – frech wie ein Gigolo.
Er schien von ihrem Zorn unberührt, ja fast amüsiert.
Bis dahin hatte ich geglaubt, dass Mann und Frau etwas Schönes sind – wie ein Gedicht.
Dieser Streit stieß mich ab.
Ich blieb sitzen, unfähig einzugreifen, weil ich nicht gelernt hatte zu schlichten.
Erst wenn es vorbei war, konnte ich handeln – und so blieb ich nur Beobachter.
Vermutlich hat mich dieser Moment mehr geleitet, als ich damals ahnte.
Ich weiß es nicht genau.
Schon jung hatte ich mir gesagt:
„Wenn du deinen Schatten kennst, gehst du zum Licht.“
Vielleicht war dies der erste Schatten, den ich wirklich gesehen habe.