John Travolta und ich
🎬 Darf ich vorstellen?
Die profansten – und zugleich tiefsten – Figuren dieser Geschichte:
Ben – Hauptdarsteller.
Ein Mann, der meint, er sei allein – bis er beginnt, sich selbst zu hören.
Sylvia – keine Frau aus Fleisch und Blut.
Nur ein leises Flüstern in seinem Kopf. Hoffnung, wenn alles still wird.
Ronja – nicht sichtbar, aber laut.
Bens Wut. Seine Unruhe. Seine Wahrheit – ungeschminkt und unbequem.
Die Ärztin – die einzige, die wirklich da ist.
Sie sieht viel. Vielleicht zu viel. Doch selbst sie ahnt nicht,
wer da in Ben spricht.

Jede Geschichte beginnt anders.
Die Sonne scheint direkt in mein Appartement im zweiten Stock. Es ist ein lichtdurchfluteter Neubau in Zollikofen BE. Die Aare ist in der Nähe und spendet Frische und Kühle. Hier wohne ich.
Vor dem Freitag, an dem alles begann, war ich ein Mann, der seinen Platz in der Gesellschaft nicht gefunden hatte. Deshalb auch dieser Freitag – wie jeder andere auch. Getrieben von Rastlosigkeit, körperlich durchtrainiert vom Leben – nicht vom Studio. Ich kämpfte, aber nicht mit Worten. Die musste ich erst noch finden. Ich war voller Kraft, doch ich wusste nicht, wohin damit. Also drehte ich lieber eine Extrarunde – um zu kompensieren, was mir fehlte. Und was ich wollte.
Der Abend am Freitag, bevor ich ausgehen werde.
Ich stehe vor dem Spiegel, kämme mir das Haar, wie John Travolta es tat – ein Ritual, das mir geblieben ist. Nicht, weil ich tanzen will, sondern weil ich mich vorbereite. Aufs Leben. Auf die Nacht. Auf den Moment, in dem ich nicht nur erscheine, sondern werde. Damals im Film war es Samstag. Bei mir war es Freitag. Immer Freitag.
Eingekleidet für die Nacht – Anzug, nicht einfach Kleidung – fahre ich mit dem Aufzug in die Tiefgarage.
Der silberne Maserati wartet, als hätte er auch eine Verabredung. Ich steige ein. Es riecht nach Leder und einem Hauch von mir. Wenn ich mich auf die Sitze setze, beginnt ein Ritual. Damals war es der Zündschlüssel, der Blick, der Druck aufs Gaspedal – und ich fuhr. Die Gummileiste am Boden, die sich langsam neigte, während sich das Tor der Tiefgarage öffnete. Die Rampe hoch – und in der Ferne: die Berge. Ein Gefühl, unglaublich.
Bern liegt vor mir wie eine Bühne, und ich bin bereit aufzutreten.
Ich fahre mit Vorfreude in die Stadt. Nicht wegen der Clubs, nicht wegen dem Trubel. Ich fahre, weil ich dazugehöre. Weil ich unter Menschen will. Weil ich spüren will, dass ich da bin. Basel war meine Herkunft. Aber Bern war mein Instinkt. Ich wusste als Junge nicht warum – aber ich wusste: Dort bin ich richtig.
Mein Lokal. Lange Eichentische, in der Nähe des Zeitglockenturms. Die Küche – vielleicht französisch, vielleicht portugiesisch – verschwimmt in der Erinnerung. Aber ich weiß noch, wie das Licht war. Wie die Stimmen klangen. Wie ich lachte, ohne zu wissen, dass es das letzte Mal war, dass wir zusammen dort saßen.
Ich habe es nicht gewusst. Aber ich habe gelebt. Und wenn ich es nicht getan hätte, wäre ich heute nicht der Mann, der ich gerne bin.
Bis dahin verlief alles wie meistens. Immer.
Ich traf Menschen wie immer, redete mit ihnen, wie ich es gewohnt war. Doch ich wusste: Bald ist Schluss damit. Der Abend würde kippen, wie er es oft tat. Dann werde ich – wie ein einsamer Wolf – durch die Straßen ziehen. Nicht suchend, sondern jagend. Die Beute: Frauen, schön wie der Abend selbst. Und was danach kam, das waren die Abenteuer. Mal flüchtig. Mal echt. Immer Teil von mir.
Aber dieser Abend – dieser würde anders enden. Nicht wie immer. Ich wusste es nicht mit Worten, aber ich fühlte es. Damals musste ich es noch nicht begreifen. Ich lebte einfach. Auch wenn ich später irgendwo aufwachen würde, ohne zu wissen, wo ich war – diesmal würde etwas bleiben. Etwas, das anders war. Etwas, das blieb.
Ich ging tanzen, wie so oft. Bewegte mich durch das Licht, den Klang, die fremden Körper. Aber ich sprach niemanden an. Vielleicht sah ich auch nicht danach aus, als ob ich Kontakt suchte. Vielleicht war es heute anders. Ich weiß es nicht.
Ich ging damals durch Bern, durch die Straßen, durch die Nacht.
Und dann hörte ich es – dieses Wimmern, in einer engen Gasse seitlich beim Zeitglockenturm. Unterdrücktes Weinen. Und ich reagierte.
Es war in einer kleinen Gasse, verborgen zwischen den Häusern. Da war sie – und zwei Männer. Ihre Peiniger. Ihnen war alles egal. Ein Leben bedeutete nichts.
Ich sah es. Und ich reagierte. Vielleicht hatte ich mich nicht unter Kontrolle. Vielleicht war da etwas in mir, das längst vergraben war – und plötzlich wieder oben lag. Ich schlug zu. In Wut. Immer wieder.
Einer der Peiniger bezahlte seine Tat mit dem Leben. Der andere, schwer verletzt, alarmierte die Polizei. Es waren Herrensöhnchen, mit Diplomatenpass. Für sie war die Welt immer offen gewesen – bis zu diesem Moment. Da stand ich. Und da lag ihre Macht am Boden, zerschlagen.
Später – viel später – hörte ich Sylvia flüstern. Nicht um mich zu beruhigen. Nur um festzuhalten:
„Du hast nicht weggesehen. Das zählt.“
Ronja schwieg lange. Dann sagte sie trocken:
„Und jetzt frag dich: Wer bist du, wenn keiner zusieht?“
Ich konnte ihnen nicht antworten. Aber ich wusste: Der Leser spürt es. Dieses Unbehagen. Diese Wahrheit, die sich nicht in Heldenmut kleiden lässt. Nur in Konsequenz.
Und dann – dieser verdammte Moment. Die Fahrt. Thorberg. Das Tor.

Hier beginnt eine neue Episode.
Thorberg – halb Schloss, halb Burg, aber ganz Gefängnis. Ein Ort, der nicht für brave Bürger gebaut wurde, aber auch nicht nur für böse Buben. Es ist ein Gebilde voller Gegensätze, das dich verschlingt und prüft, bevor du dich selbst verstehst.
Es öffnet sich nicht dramatisch. Kein Donner. Nur ein dumpfer Ruck. Metall auf Metall. Du fährst durch, und du weißt: Jetzt bleibst du hier. Lange. Vielleicht zu lange. Dieses Tor schluckt dich, und du verschwindest. Nicht in Dunkelheit. In Stille. Und in dir selbst.
In mir – Wut. Aufgestaute soziale Wut. Einer Frau tut man nicht weh. Man akzeptiert sie, im schlimmsten Fall, aber so – nicht. Niemals so. Diese Tat riss Ventile auf, die ich lange verschlossen hatte. Soziale Kontakte – ich brauchte sie, um zu kompensieren. Das Tanzen – ein Ventil, auch wenn es im Club war, als Travolta-Ersatz. Auch er tanzte, weil es sein Leben war.
Ich wurde in eine Zweihaftzelle gesteckt. Anklage: Totschlag. In einer anderen Welt wäre ich vielleicht als Held gefeiert worden. Aber das blieb mir hier verwehrt.
Ich kam in diese Zelle, voller „Wir“. Ein Raum aus ungesagten Allianzen. Ich schlug um mich – voller Wut. Doch es blieb nicht lange so. Es bildeten sich Gruppen, Clan-Chefs, die das Sagen hatten, in der Küche, im Raum, im Ton. Ich ging zu ihnen, warf das Tablett auf den Boden und widersprach. Nannte sie Idioten. Kämpfe brachen aus – keiner davon war ein Sieg. Die Wärter kamen, zogen mich heraus, steckten mich in Einzelhaft. Und ich war nur noch erfüllt von „Wir“ – und von dem, was ich nie sein wollte.
Die Ereignisse – was soll ich sie nennen? Es war niemand da, der sie mir erklärte, niemand, der sie mir zelebrierte. Es war eine Welt aus Dominanz, Gewalt und Macht. Ich war in keiner davon. Ich war nur in meiner. Ungerechtigkeit – ja, vielleicht. Aber wie nennt man etwas, das kein Wort trägt?
War es vorhersehbar? War es Plan? Ich weiß es nicht. War es Sühne für etwas? Oder ein Test? Ich weiß es nicht. Aber wer Thorberg kennt, weiß, was folgt. Es ist kein Gefängnis. Es ist ein uraltes Geheimnis. Eines, das dich sieht, bevor du dich selbst erkennst.
Die Ärztin kam zur Kontrolluntersuchung.
Sylvia stand still in der Ecke meines Bewusstseins. Sie sagte nichts, aber ich spürte, wie sie meine Handflächen betrachtete – nicht nach Wunden suchend, sondern nach Zeichen. Zeichen dafür, dass ich noch nicht ganz verschwunden war.
Ronja dagegen trat näher, unaufdringlich. Kein Kommentar, kein Zynismus. Nur dieser Blick, der sagte:
„Noch atmest du. Also mach was draus.“
Diese Zeit in Thorberg könnte ich ausschmücken. Mag aber nicht das scheinheilige Getue, dieses Ausüben von Macht – egal, welche Menschen gefangen sind, ob Wärter oder Insassen. Wer hier Gesetzesbrecher ist, verschiebt sich täglich. Es war nicht so, dass ich für mein Handeln keine Buße tun wollte. Aber ich sah nicht ein, dass man Gutes an einer Frau verüben will, indem man sie missbraucht. Eine Meinung kann man haben – man ist selten einer – aber das rechtfertigt nichts.
Der Brunnen – wer kennt ihn nicht? Es sind schon viele Sagen darüber geschrieben worden, aber keiner – auch nicht dieser hier – beginnt dort, wo meiner beginnt: in der Fantasie und im Untersuchungszimmer.
Sie war eine Ärztin. Wer sie war, weiß ich bis heute nicht. Sie sah mich an, gab mir ein Notizbuch und einen Stift. Es stand einfach drin:
„Willst du raus aus diesem Loch, dann schreib JA. Bist du bereit, Worten Taten folgen zu lassen?“
Auch hier schrieb ich: Ja.
Sie nahm mich an der Hand, schloss eine schwere Stahltür auf. Ein kleiner Raum tat sich vor mir auf. Eine schmale Treppe führte hinunter ins Dunkel, Stufe um Stufe – in die Freiheit.
Unten wartete ein Fahrzeug. Ein neutrales, eines der Polizei. Es nahm uns auf und fuhr uns an einen unbekannten Ort. Zu einer neuen Aufgabe. Im Wagen sprach niemand. Nur ich – in mir.
„Ist das jetzt Freiheit?“ fragte Sylvia leise.
Ronja zuckte mit den Schultern. „Freiheit? Vielleicht. Aber nicht freiwillig.“
„Wir leben jetzt in Räumen,“ sagte ich, mehr zu mir selbst. „Im Gefängnis. In diesem Auto. Bald wieder irgendwo. Aber welches Leben ist das – wenn es nur Räume sind?“
„Ein Leben zum Wohl einer Gesellschaft,“ spottete Ronja. „Einer, die keine Erklärung kennt für das, was sie selbst tut.“
„Und wir?“ flüsterte Sylvia. „Sind wir nur Figuren in deren Spiel?“
Ich antwortete nicht. Ich sah nur nach draußen. Und spürte: Der nächste Raum wartet schon auf mich.


Kapitel Zwei Danach
Es geht weiter. In der Geschichte. Im Leben. So oder so.
Ob wir wollen oder nicht – die Zeit fragt nicht nach Zustimmung. Aber wir können entscheiden, was wir mitnehmen. Worauf wir hören. Was wir kontrollieren.
Nicht alles. Aber genug. Und manchmal… genügt das.
Innenraum. Tiefer Abend. Drei Personen. Nico steht. Ben sitzt. Martha schweigt. Der Raum hat nichts Warmes. Es ist der letzte Ort vor dem ersten Schritt.
Nico (ohne Umschweife):
„Du bekommst keinen Freispruch, Ben. Kein Rehabilitationspapier. Du bleibst ein Verurteilter. Ein Geflüchteter. Ein Werkzeug.“
Ben (gelassen):
„Nicht mal ein Deckname?“
Nico:
„Du bist dein eigener Deckname. Das macht dich glaubwürdig.“
Ben (lehnt sich zurück):
„Ich kenne diesen Ton, Nico. Das ist der Ton vor dem Verlust. Ihr schickt mich rein, weil ihr nichts mehr zu verlieren habt.“
Nico (tritt näher):
„Nein, Ben. Wir schicken dich, weil du der Einzige bist, der nie aufgehört hat, zu fühlen. Deshalb fürchten sie dich.“
Ben (nach einer Pause):
„Und Martha?“
Nico (blickt zu ihr):
„Sie geht mit. Weil sie mehr versteht, als dir lieb ist.“
Martha (ruhig):
„Ich entscheide selbst, wann ich gehe. Und mit wem.“
Ben (steht auf, nimmt seine Jacke):
„Dann ist ja alles gesagt.“
Später. Ein leerer Raum. Fenster offen. Ben sitzt allein. Licht vom Flur fällt auf den Boden. Ein Atemzug. Eine Stimme – nicht laut, aber klar.
Ronja (in Bens Kopf):
„Warum schweigst du? Du kennst sie. Die Spielchen. Die Netze. Und trotzdem gehst du rein.“
Ben (flüstert):
„Weil ich’s muss.“
Ronja:
„Du musst gar nichts. Außer du selbst bleiben. Vergiss das nicht – ich bin noch da.“
Ein Hauch von Lächeln zuckt über Bens Gesicht. Ronja hat nicht geschrien. Sie war da. Ruhig. Wach. Bereit.
Außen. Straßenlicht. Martha und Ben gehen nebeneinander. Kein Ziel. Nur Richtung.
Martha:
„Du hast dich entschieden, oder?“
Ben (leise):
„Ich entscheide mich jeden Tag. Immer neu. Nicht für euch. Für mich. Und für dich.“
Martha bleibt stehen. Der Wind hebt leicht ihr Haar. Sie trägt kein Make-up, keine Rolle. Nur Präsenz.
Martha:
„Ich bin kein Projekt, Ben.“
Ben:
„Ich auch nicht. Aber wenn du willst… können wir etwas werden, was keiner geplant hat.“
Martha (nach kurzem Zögern):
„Du meinst Bonnie und Clyde?“
Ben (blickt nach vorn):
„Nein. Die hatten einen Todestermin. Ich will einen Anfang.“
Martha (geht weiter):
„Dann geh. Ich folge dir nicht. Aber ich bleib neben dir.“