Königin der Berge Rigi

Das Abenteuer beginnt

Der Morgen begann mit Stille. Nicht als Abwesenheit von Lärm, sondern als Anwesenheit von etwas anderem – etwas Unbestimmtem, das im Raum lag, zwischen uns, nicht greifbar, aber spürbar.

Sie lag noch, als ich aufstand. Nicht schlafend. Aber auch nicht ganz wach. Ihre Schulter im Licht, ein Atemzug, der sich nicht beeilen musste. Ich trank meinen Kaffee, stand an der Glastür und sah auf den See hinaus, der sich nicht zeigte, sondern einfach war. Keine Pose. Keine Erwartung. Und auch sie – war einfach da. Ohne Erklärung, ohne Ziel.

Als sie kam, trug sie mein Hemd. Eine Geste ohne Absicht. Ihre nackten Füße auf dem kühlen Boden, ihr Blick wach, aber vorsichtig. Sie stellte sich neben mich und sagte: „Guten Morgen.“ Keine Andeutung. Kein Tonfall. Nur das, was es war. Und das reichte.

In der Küche bewegte sie sich mit einer Selbstverständlichkeit, die nicht von Besitz kam, sondern von Gewöhnung an Einsamkeit. Eine Frau, die gewohnt war, alles selbst zu tragen – und genau darum nicht laut wurde, wenn sie etwas annahm. Ich reichte ihr, was sie suchte. Kein Gespräch, aber ein Rhythmus. Und ich wusste: Sie ist nicht fremd hier. Nur noch nicht vertraut.

Später stand sie auf der Terrasse, schaute in den Himmel und sagte fast beiläufig:

„Ich bin kein Wetterprophet, aber der Himmel sagt mir – heute fahren wir auf die Rigi.“

Ich nickte nur. Kein Widerstand. Kein Zweifel. Denn ich verstand: Das war keine Idee – das war Entschluss.

Der Rucksack lag bereit. Die Tageskarten hatte ich schon am Abend besorgt – aus Gewohnheit, aus Vorsicht. Vielleicht aus der stillen Hoffnung, etwas Kontrolle zu behalten.

Dann standen wir am Seeufer. Das Schiff lag dort wie eine Linie zwischen zwei Welten – zwischen Stadt und Berg, zwischen gestern und dem, was sich nun anbahnte. Weiß, ruhig, präzise – als hätte es nur auf uns gewartet.

Ich kannte es. Nicht als Tourist. Ich hatte damals die Software geliefert, die es steuerte – Navigation, Treibstoffoptimierung, Routenprotokoll. Ein paar aus der Crew erkannten mich, nickten knapp. Mehr war nicht nötig.

Mit Lea sprach ich Hochdeutsch. Schuldeutsch. Korrekt. Wach. Klar. Es war die Sprache, in der wir uns begegnet waren, in der sie sich sicher fühlte. Ich stellte nichts um, zwang nichts in mein Muster. Ich wusste, dass sie hören konnte, dass ich anders klang, wenn ich mit den anderen wechselte – ins Schweizerdeutsch, fließend, beiläufig. Mit ihr blieb ich bei dem, was sie kannte.

Und doch entstand in diesem Nebeneinander der Sprachen etwas Eigenes. Kein Missklang – aber ein Raum. Einer, in dem sie sich innerlich zurechtrückte. Vorsichtig. Wachsam.

Sie stand am Geländer, blickte auf das Wasser. Ich beobachtete sie nicht aus Sorge. Sondern mit Respekt. Da war jemand, der sich in einer Welt bewegte, die ihr nicht gehörte, die sie aber nicht mied. Ihre Schultern waren gerade, aber innerlich war sie wachsam.

Zwischen See und Horizont drehte sie sich kurz zu mir.

„Ist schön hier. Aber es gehört mir nicht.“

Ein Satz, der alles sagte. Ohne Erklärung.

Als wir in Vitznau anlegten, war etwas passiert – leise, unsichtbar, aber echt. Vielleicht hatten wir nur Ufer gewechselt. Vielleicht etwas anderes.

In Vitznau war alles anders als ich es in Erinnerung hatte. Die Materialien, die Farben – modernisiert, geglättet. Ich musste mich kurz orientieren, wie jemand, der in seiner eigenen Erinnerung fremd wird.

Und wie so oft war ich wieder der, der organisierte. Der, der wusste, wo es langgeht. Doch in meinem Innern merkte ich: Ich nahm ihr etwas weg.

Ich fragte: „Magst du heute führen?“

Sie zögerte nur kurz.

„Mit dir als Support“, sagte sie.

Es war eine Bitte. Aber auch eine Grenze. Nicht Schwäche. Nicht Unterwerfung. Sondern etwas anderes: Vertrauen, vorsichtig ausgestreckt.

Die Bahn stand bereit. Wir stiegen ein. Sie setzte sich ans Fenster, zuerst mit Blick zum See. Dann wechselte sie die Seite – zum Berg hin. Zum Nahen. Zum Unübersichtlichen.

Ich sah sie nur kurz an. Sie sagte nichts. Aber ich begriff: Ihre Welt ist nicht aus Postkarten gebaut. Sie braucht Kanten, Schatten, Höhenlinien. Nicht als Ziel – sondern als Gegenüber.

Und ich? Ich beobachtete sie. Und sah: Etwas wuchs. Keine Liebe in großen Buchstaben. Kein Drang nach „für immer“. Nur Bewegung. Innerlich.

Ich wusste: Es wird nicht bleiben. Nicht so. Nicht lang. Und das war in Ordnung.

Denn manche Räume, in denen wir wachsen, sind nicht für immer. Und das heißt nicht, dass sie weniger wahr sind.

Oben, auf der Plattform, der letzte Anstieg zu Fuß. Keine Worte mehr. Nur diese Stille, die zwischen zwei Menschen entsteht, wenn sie dieselbe Aussicht teilen – ohne sich dabei erklären zu müssen.

Wir sahen hinunter in eine Welt, die sich nicht präsentierte, sondern offenbarte. In ihrer ganzen Würde. In ihrer ganzen Wahrheit.

Und dann – ohne Druck, ohne Absicht – nahmen wir uns in die Arme. Und wir küssten uns. Nicht zum ersten Mal. Aber als wäre es das erste Mal, das zählte.

Die Bahn talwärts fuhr auf der anderen Seite. Richtung Arth-Goldau. Dort, wo einst der Felssturz war. Man sah die Narbe noch. Und ich dachte: Auch das ist Teil der Landschaft. Nicht Schwäche. Sondern Geschichte.

Am Perron stand sie. Wieder. Die Kondukteurin. Dieses Lächeln, das man nicht einordnen kann. Lea blieb kurz stehen. Schaute mich an.

Dann sagte sie, fast leise, fast kindlich:

„Bitte sag ja. Ich brauche sie. Als meine Stütze. Ich bin manchmal verloren ohne sie. Auch gegen dich. Ich kann nicht anders. Ich hab’s so gelernt. Bitte sei mir nicht böse – aber ich brauche es jetzt.“

Ich sagte:

„Ja.“

Nicht, um sie zu halten. Sondern um sie freizugeben.

Und sie veränderte sich. Nicht dramatisch. Aber spürbar. Sie trat aus sich selbst heraus. Nicht gegen mich. Sondern mit sich.

Die Rückfahrt war still. Unten in der Tiefgarage stand der Maserati. Und ja – ich weiß. Für die paar hundert Meter zum Appartement hätte man laufen können. Aber ich bin manchmal ein fauler Hund. Und ich liebe das Gefühl, wenn der Motor anspringt.

Wir stiegen ein. Lea vorn. Hinten – die Kondukteurin. Niemand hatte sie eingeladen. Aber sie war da. Als hätte sie dazugehört.

Ich fuhr los. Und im Rückspiegel sah ich sie. Zum ersten Mal wirklich.

Kein Lächeln. Kein Urteil. Nur dieser Blick.

Wie ein Spiegelbild.

Nicht von ihr.

Von uns.