Kosmopolit mit Basler Adresse
(In eigener Sache der Neuste Eintrag ist Oben und wandert dann nach Unten an seinen Platz)

Kosmopolit mit Basler Adresse
Saint Tropez








Die Sonne stand hoch über Marseille. Hartes Licht fraß sich in die Steinflanken der monumentalen Treppe von Saint-Charles. Jede Stufe glühte, als hätte sie das Gewicht all der Ankommenden und Fortgehenden gespeichert. Skulpturen warfen lange Schatten, als wollten sie selbst von Geschichten erzählen – von Soldaten, Flüchtenden, Liebenden, von Heimkehr und Abschied.
Lina und Arthur setzten vorsichtig einen Schritt nach dem anderen. Der Wind roch nach Meer, vermischt mit Staub und Abgasen – der schwere Atem der Stadt. Arthur blinzelte ins Licht, Lina hielt den Blick gesenkt, als lausche sie den Stimmen, die in den Steinen hafteten.
Am Fuß der Treppe stand Jessica. Sie löste sich aus dem Schatten, als hätte sie nur auf diesen Augenblick gewartet. Kein Lächeln, keine Geste zu viel. Nur ein knappes Nicken, eine Begrüßung, die nüchtern wirkte und doch einen Sog hatte – wie das Auftreten einer Figur, die mehr weiß, als sie sagt.
„Kommt,“ sagte sie leise.
Der rote Peugeot 608 wartete bereits. Die Türen klappten zu, der Wagen setzte sich in Bewegung. Durch die Heckscheibe sah Lina, wie Marseille hinter ihnen zurückwich: die Treppe, der Bahnhof, die Dächer, schließlich nur noch ein Schimmer im gleißenden Licht.
Die Straße öffnete sich. Weinreben, Olivenhaine, Zypressen zogen vorbei, Felder, auf denen die Hitze flirrte. Ein Schild wies den Weg: Saint-Tropez, 150 km. Der Peugeot rollte weiter, bis das Meer wieder auftauchte, wie eine Verheißung im Abendlicht.
Jessica schwieg lange, ehe sie zu sprechen begann.
„Ich habe Ben nicht in Marseille getroffen,“ sagte sie. „Es war in Sisteron. Ich stand am Straßenrand mit meinem Rucksack, ein Stück Pappe in der Hand: Je sauve les moulins. Ich wollte Windmühlen retten – alte, verlassene, wie Zeugen aus einer anderen Zeit.“
Ein kurzes Lächeln huschte über ihr Gesicht.
„Ben hielt an. Ich sagte: ‚Zu den Mühlen.‘ Er nickte. Aber er wollte nie zu den Mühlen. Er wollte die Welt – wenigstens ein Stück davon.“
Sie sah hinaus, als schwebe der Staub der Straße noch immer vor ihr.
„Wir kamen nach Marseille. Ein Jahr blieben wir dort. Er zeigte mir die Stadt, ich zeigte ihm die Mühlen, die wir nie wirklich fanden. Und vielleicht war genau das unser gemeinsamer Ort – irgendwo zwischen dem, was wir retten wollten, und dem, was uns entglitt.“
Die Ankunft in Saint-Tropez war ein Schlag aus Licht und Farbe. Der Hafen glitzerte, Yachten schaukelten, Stimmen füllten die Luft. Doch Jessica führte sie in eine schmale Gasse. Hier war es kühler, die Häuser alt, mit verblassten Fassaden und grünen Fensterläden. Wäsche flatterte im Wind, der Duft von Salz und gekochtem Gemüse mischte sich mit dem Geräusch von Schritten.
Am Ende der Gasse stand ein kleines Bistro, Stühle und Tische direkt auf dem Pflaster. Der Wirt, Hände noch mehlig von der Küche, nickte ihnen zu, als hätte er sie erwartet.
„Plat du jour,“ verkündete er. „Frische Dorade, Ratatouille, ein Pastis dazu.“
Arthur lächelte schief. „Warum nicht?“ Lina nickte, und für einen Moment löste sich die Spannung.
Jessica aber blieb ernst. „Nehmt es an. Die einfachen Dinge – sie werden nicht immer da sein.“
Ein Schatten fiel über den Tisch. Neben dem Wirt trat ein Mann, kräftig gebaut, mit hochgekrempelten Ärmeln, das Gesicht salzgegerbt. Seine Bewegungen hatten die Ruhe eines Seefahrers.
„Das ist Jean,“ sagte Jessica. „Aus Marseille. Aber er lebt hier, in Saint-Tropez.“
Jean setzte sich, legte die Hände breit auf den Tisch. „Marseille,“ sagte er langsam, „das trägt man im Blut. Auch wenn man hier lebt, unter Sonne und Touristen. Die Stadt lässt einen nicht los.“
Jessica nickte. „Ich kannte ihn schon damals, am Hafen. Ich mietete bei ihm ein Boot, angeblich für Ausflüge. In Wahrheit waren es kleine Fahrten, im Morgengrauen oder in der Nacht. Schmuggelfahrten. Nichts Großes, aber genug, um zu überleben. Ben und ich lebten von Luft und Liebe – und von dem wenigen Geld, das dabei abfiel.“
Jean ließ die Finger über das Holz trommeln. „Ihr habt dem Meer mehr vertraut als den Menschen.“
Stille legte sich über den Tisch. Dann sagte Jessica leise: „Wir suchen Ben. Arthur hat seine Skizzen. Aber Bilder sind nicht genug.“
Arthur schob das Lederbuch vor, legte die Hand darauf. „Ich brauche keine Reise in meiner Fantasie. Ich brauche eine Spur. Und ich denke, du weißt, wo Ben ist.“
Jean schwieg. In seinen Augen lag Müdigkeit und Wissen zugleich. Schließlich hob er den Kopf.
„Bens Großvater,“ begann er langsam, „lebte einst in Marseille. Als der Krieg kam, verschleppten ihn die Deutschen. Er wurde nach Norden gebracht. Er arbeitete, doch er beugte sich nicht. Weil er nicht tat, was man ihm befahl, wurde er erschossen.“
Ein kurzes Schweigen. Nur das Summen der Fliegen über dem Pflaster.
Jessica senkte den Blick. „Ben hat mir davon erzählt. Er war noch ein Kind, als er davon erfuhr. Seine Mutter sprach manchmal von ihrem Vater. Nie laut – nur in diesen stillen Stunden, wenn das Haus dunkel war und die Fenster offen. Ben lauschte, er hörte die Bruchstücke, die Sätze, die nie ganz fertig wurden. Und er trug sie in sich.“
Arthur schloss sein Buch, als hätte er etwas verstanden. „Darum also,“ sagte er leise, „geht es. Nicht um Karten oder Straßen. Sondern darum, nicht zu vergessen, wer wir sind.“
Jean nickte. „Genau das. Alles hatte einen Sinn. Und Marseille trägt es noch. Dort müsst ihr zurück – nicht in die Straßen, die jeder kennt. Sondern in die, die keiner mehr betritt.“
Jean schwieg lange, bevor er weitersprach. „Ihr glaubt, er sei allein da draußen. Aber das ist er nicht. Er ist nie ganz allein. Eine Frau ist bei ihm. Französin. Sie kennt das Meer, und sie kennt die alten Wege. Ihr Vater war bei den Maquisards, sie trägt es weiter. Keine Uniform, kein Abzeichen – nur dieser Blick, den man erkennt, wenn man ihn einmal gesehen hat.“
Jessica legte die Hand auf den Tisch. „Ich kenne sie nicht. Aber ich kenne die, die sie kennen. Alte Freunde, alte Namen. Leute, die keine Adressen brauchen. Ein Glas in der richtigen Bar, ein Wort am falschen Ort, und die Türen öffnen sich.“
Arthur zog die Stirn kraus. „Und du meinst, so einfach ist das?“
Jessica schüttelte den Kopf. „Einfach nie. Aber möglich, ja. Wir haben damals von Luft und Liebe gelebt, Ben und ich – und von den Schatten. Dieselben Schatten sind noch da. Manche sind alt geworden, manche haben die Seiten gewechselt, aber ein paar halten noch Wache. Über Orte, die nicht in den Reiseführern stehen.“
Jean nickte zustimmend. „Saint-Tropez ist voll von Sonne, aber in den Kellern, in den Hinterzimmern – dort spricht man noch dieselbe Sprache wie vor Jahrzehnten. Jessica kennt die richtigen Türen.“
Draußen zog der Wind durch die Gasse, ließ die Wäsche an den Leinen flattern. Arthur griff nach seinem Lederbuch, schob es zu Jessica. „Dann zeichne uns die Tür, die wir öffnen müssen.“
Jessica nahm das Buch nicht sofort. Sie sah hinaus, über die Dächer hinweg, dorthin, wo das Meer im Abendlicht schimmerte. „Es gibt keine Karten. Nur Gesichter. Und die werde ich wiederfinden.“
Kapitel 2 – Zugfahrt nach Paris
Kapitel 1 – Intro
Die Tür im Büro an der Aeschenvorstadt 48 flog auf. Arthur Cohen stürmte herein, sein Mantel wehte im Durchzug. Er wirkte gehetzt, fast zornig.
„Warum wusste ich nichts davon? Hast du es nicht gesehen?“, fuhr er seine Assistentin an.
Lillian hob den Kopf vom Schreibtisch. Überall lagen verstreute Aktenordner und Drehbücher. Sie blinzelte unsicher, ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
„Arthur… ich…“
Er ging im Raum auf und ab. Seine Hände zitterten vor Anspannung. Lillian wusste, wann dieser Moment kam: wenn aus Armut an Ruhe ein Funke sprang. Und Arthur war Feuer, wenn dieser Funke gezündet hatte.
„Der Funke wird zünden“, sagte er schließlich ruhiger, aber mit einer Drohung im Unterton. „Und wenn dabei ein Oscar im Spiel ist – dann erst recht.“
Später saß er am Schreibtisch. Der Bildschirm flackerte, während er klickte und suchte. Sein Blick blieb an einem Komoot-Profil hängen.
Ben.
Die Bilder wirkten, als stammten sie direkt aus einem Film. Doch etwas irritierte ihn: Ein neuer Kommentar. Er stammte von einer gewissen Jessica. Nur drei Worte: „Das Verschwinden von Ben.“
Arthur lehnte sich zurück, die Augen wurden schmal. Staub wirbelte auf – wie so oft in diesem Büro, in dem sich Geschichten niemals ganz legten.
Er griff nach einem Fahrplan und murmelte: „Lina… ihr Atelier ist gleich um die Ecke. Ich muss mit ihr reden.“
Draußen, am Aeschenplatz, flatterte sein Mantel im Wind. Er dachte an Jessica. An Ben. An all die Bilder auf Komoot.
Ben hatte eine Einsatzanweisung erhalten, doch seitdem war er verschwunden. Seine Freundin Lina pflegte das Profil in seinem Namen weiter, beinahe so, als wäre er noch da. Bis plötzlich Jessica aufgetaucht war – eine Frau, die Ben vor vierzig Jahren in Marseille verloren hatte und die noch immer dort lebte.
Für Arthur war klar: Das war kein Zufall. Es war der Anfang einer Geschichte, die geschrieben werden wollte.
Das Atelier roch nach Öl, Farbe und Holz. Sanftes Licht fiel durch die hohen Fenster auf Bilder, die an den Wänden hingen – manche vollendet, andere noch roh.
Arthur blieb kurz stehen, sah sich um. Dann trat Lina hervor, ein Tuch in der Hand.
„Arthur… du schon wieder“, sagte sie überrascht, doch ohne Schärfe.
„Deine Galerie“, erwiderte er und sein Blick streifte die Bilder. „Sie wirkt wie ein Spiegel.“
Er legte den Fahrplan auf einen Tisch, beugte sich leicht vor.
„Komm, lass uns den Film machen.“
Lina schwieg. Dann, leise und fast flüsternd: „Vielleicht. Aber vergiss nicht – zuerst schreibt das Leben das Drehbuch.“
Arthur sah sie an, ernst und entschlossen.
„Ben ist weg. Niemand spricht darüber. Aber es betrifft uns. Dich. Mich. Und jetzt auch Jessica.“
Ein kurzer Moment der Stille. Lina nickte kaum merklich, als hätte sie gewusst, dass dieser Satz kommen würde.
„Dann erzähl“, sagte sie. „Wer fängt an?“
„Ben“, antwortete Arthur ohne Zögern.
Ihr Blick traf sich. In ihm lag etwas, das größer war als die Kunst an den Wänden – ein Anfang.
Marschplan – Basel → Paris → Marseille
Noch am Abend würden Arthur und Lina den TGV in Basel nehmen, Richtung Paris. Drei Stunden bis ins Gare de Lyon, dann eine Nacht im Hôtel des Grandes Écoles – Arthurs Lieblingshotel, ruhig, mit Garten, voller vertrauter Atmosphäre.
Am nächsten Morgen weiter nach Marseille. Drei Stunden südwärts, direkt zum Meer. Dort wartete Jessica – am Hafen, vielleicht, oder an einem Ort, den nur sie bestimmen konnte.
Arthur wusste: Dort lag der Schlüssel. Nicht nur zu einem Film, sondern zu der Wahrheit über Ben.
Kapitel 2 – Die Fahrt
Lina saß gemütlich in einem der Sessel des TGV, erste Klasse. Draußen glitten die Landschaften vorbei, gleichmäßig, fast beruhigend. Sie erzählte Arthur, was sie von Ben wusste. Arthur lehnte sich zurück, sah sie ernst an. Er wollte sich ein Bild machen – wer war dieser Ben eigentlich?
Lina zögerte. „Wie erklärt man einen Menschen, den man liebt und mag?“, begann sie schließlich leise. „Am Anfang waren es die Signale, die er aussandte. Und darin war Ben gut. Ich muss es zugeben.“
Sie hielt inne, suchte nach Worten. „Jedes Mal, wenn er zurückkam, brachte er mir ein Bild. Immer eines, das mich mitten ins Herz traf. Das war seine Sprache. Was er in der Zwischenzeit tat, wusste ich nicht genau. Ich wusste nur, dass er zwei Leben führte: eines mit mir – und eines ohne mich. Doch diese Zeit ohne mich betraf mich nicht. Er war mir nichts schuldig, und er sagte das auch nie. Geheimnisvoll war er nicht. Wenn ich fragte, meinte er nur: ‚Weiß nicht, was du hören möchtest.‘“
Arthur schwieg, hörte aufmerksam zu.
„Ich weiß nur, dass er Schweizer ist“, fuhr Lina fort. „Und dort gibt es besondere Menschen. Warum sie so sind, weiß ich nicht. Aber ich erinnere mich an die Geschichte des Bundesrates. Man hatte erkannt, dass sich die Rechtslage ändern würde – und dass die Rede von hundert Panzern an der Grenze nichts als Humbug war. Also nahm man die Frechsten und Widerspenstigsten zusammen, um daraus eine Einheit zu bilden.“
Sie lächelte bitter. „Und da war nun Ben. Einer von diesen Verrückten. Mittlerweile erfahren, aber er hatte die Schnauze voll. Warum er mitmachte? War es Vaterlandsliebe? Gehorsam? Nein. Vermisst sein, das war es längst nicht mehr. Denn eigentlich bemerkte niemand, was er tat – und es interessierte auch keinen.“
Die Worte fielen schwer in den Raum des Zugabteils. Lina sah hinaus, wo die Felder vorbeizogen.
„Und was sind das überhaupt für Aufgaben?“, murmelte sie. „Da wollen Menschen etwas machen, doch ohne Taten bleibt alles nur ein Vorwand. Viele glauben, nach der Schule beginne das Leben – und das heiße nur noch feiern. Sie reisen in ferne Länder, zeigen Reichtum, egal ob arm oder reich. Aber was geschieht mit dieser Botschaft? Niemand will es einschätzen. Es ist kein Neid, der ihnen entgegenschlägt, sondern Unverständnis. Warum haben wir alles, und doch funktioniert Teilhabe nicht? Nicht, indem wir teilen – sondern indem wir wegnehmen. Dir. Ben. Und anderen.“
Sie senkte die Stimme. „Und dann holen sie diese Menschen wieder nach Hause. Warum? Keine Ahnung. Mehr hat mir Ben nie erzählt.“
Arthur sah sie lange an. Das Rattern des Zuges legte sich wie ein gleichmäßiger Rhythmus unter ihre Gedanken. Sie wussten beide: Diese Geschichte war größer, als sie es sich je vorgestellt hatten.