Meine blaue Tasche

Vielleicht war ich offen. Vielleicht sendete ich etwas aus, ohne es zu wissen. Ich schwamm im Becken, während mein Körper durchs Wasser glitt. Schwimmen – das war meins. Früher Teil meines professionellen Triathlontrainings, heute nur noch für meinen Körper und Geist. Ich zog ruhig meine Bahnen, ganz bei mir. Es war Basel, Sommer. Meine blaue Tasche lag am Beckenrand. In ihr: ein Badetuch, ein Brillenetui, ein verschließbarer Beutel mit Lebensmitteln, ein Buch, ein Stift, ein wenig Geld. Nicht viel – genug, um frei zu sein. Genug, um ich zu sein.
Wenn du magst
Als ich aus dem Wasser kam und mich am Beckenrand niederließ, sah ich einen Freund. Er setzte sich neben mich. Zwischen uns: meine Tasche. Wir sprachen über Gedanken, über Fantasien, über das, was wahr wird, wenn man es zu lange denkt. Ich bemerkte nicht, dass sie da war. Noch nicht.
Sie hörte zu. Und das war ungewöhnlich. Ich hatte nichts zu verbergen – aber normalerweise muss man kämpfen, um Gehör zu finden. Und sie… sie hörte einfach. Still. Wach. Als wäre Zuhören für sie selbstverständlich.
Und dann – sie kam aus dem Wasser. Ein roter Bikini, knapp. Eine Erscheinung, die anderen vielleicht den Atem rauben würde. Mir nicht. Nicht damals. Ich nahm es kaum wahr. Aber es begann. Irgendetwas. Unbemerkt, leise. Wie ein Strom, der unter der Oberfläche zieht.
Mein Freund verschwand. Vielleicht spürte er, dass er fehl am Platz war. Wir setzten uns auf quadratische Stufen. Sie zog die Beine an, schloss sich selbst. Es gab nichts zu sagen. Oder ich wusste es nicht. Ich war weggetragen.
Dann stand sie auf. Sie sagte etwas. Etwas Einfaches, Unerklärliches. „Komm mit, ich bin auch satt.“ Warum, weiß ich bis heute nicht. Wie eine Puppe folgte ich ihr. Nicht wissend, nicht wollend. Einfach nur: da.
Wir betraten einen Raum. Sie nannte es Wohnung. Ich war dort. Ohne zu wissen, warum. Ohne Plan. Vielleicht, weil ich zu verwöhnt war. Vielleicht, weil ich nach nichts suchte – und genau deshalb gefunden wurde.
RONJA (spöttisch): Natürlich bist du ihr gefolgt. Weil sie leise war, weil sie schaute, weil dein innerer Kompass anscheinend auf ‚mysteriöse Frau in Unterwäsche‘ geeicht ist.
SYLVIA (leise): Warum bist du mitgegangen? War es Neugier, Hoffnung – oder einfach nur Müdigkeit vom Immergleichen? Du hast dich doch nie als einer gesehen, der fremden Einladungen folgt. Was genau hat dich da berührt?
Die Wohnung war schlicht, fast leer. In der Mitte: ein Tisch, nicht sehr breit, nicht sehr lang. Genügend, um sich darauf zu bewegen. Sie legte das Tuch, das noch ihren Leib bedeckte, auf den Boden. Darunter trug sie nur noch den knappen Bikini. Dann legte sie sich auf den Tisch, auf den Rücken, streckte sich leicht.
„Hier sind Fesseln“, sagte sie leise. „Fessle mich. Lass mich das genießen, dass du mich berührst. Ich will mich nicht mehr wehren können.“
Ich zögerte. Dachte, sie hätte die Macht, die Kontrolle. Doch mit diesem einen Satz gab sie alles ab – oder schien es nur. Ich legte ihr die Fesseln an. Ihre Arme waren fixiert, ihr Körper regungslos, aber nicht starr. Lebendig. Bereit.
Ich zog ihr den Bikiniunterteil ab. Sie spreizte leicht die Beine. Ich sah sie an – und sie ließ mich sehen. Ohne Scham, ohne Zurückhaltung.
Ich berührte sie, sanft zuerst, dann bestimmter. Ihre Haut war warm, empfänglich. Ihre Reaktion eindeutig. Ich zog meine Badehose aus, mein T-Shirt war noch feucht. Ich war bereit, nackt, sichtbar. Sie sah mich an. Ihr Kopf fiel leicht zurück.
„Ich bin glücklich, dass du von mir erregt bist.“
Ich trat näher. Ich wusste: Es war nicht nur Begierde. Es war ein Moment, der mehr wollte. Mehr sagte. Und ich ließ mich fallen.
Ich sah sie an. Und in diesem Augenblick war sie beides: sichtbar und verschwunden. Gegenwärtig – aber stillgestellt.
Ich weiß nicht, ob sie das wirklich denkt. Ob sie dort sitzt und fühlt, was ich ihr zuschreibe. Ich sehe nicht hin. Es interessiert mich. Und doch nicht. Was soll ich mit ihr? Ein Halsband? Sie führen, wie ein Tier? Oder sie jetzt nehmen, sie ficken, ohne weitere Fragen?
Am besten, ich warte. Vielleicht träume ich. SYLVIA (fragend): Oder hast du längst entschieden und tust nur so, als wärest du noch auf der Suche? Ist dieses Warten nicht auch eine Form von Machtspiel? Vielleicht kommt etwas in mir an, das Klarheit bringt. RONJA (scharf): Oder vielleicht wartest du nur, weil du Angst hast, dass du längst weißt, was du willst – aber nicht weißt, was du tun würdest, wenn du es wirklich bekämst. Ich weiß nicht, was ich mit ihr will. Aber ohne sie – das will ich auch nicht. Und mit ihr? Ich weiß es nicht. Noch nicht.
Sie wühlte sich zwischen die weißen Laken, zog eines zu sich heran, als wollte sie sich in dessen Weichheit verbergen oder auflösen. Dann drückte sie das Tuch zwischen ihre Schenkel, rieb sich daran. Ihre Atmung beschleunigte sich, ihr Körper zuckte leicht, als durchzucke sie ein kurzer, unerwarteter Orgasmus. Ihre Augen trafen meine. Und ohne Worte, nur mit einem Flüstern in ihrem Blick, sagte sie: „Ich gehorche, ja.“
Sie liegt da – immer noch – eingehüllt in die Laken. Nicht mehr nackt, denn die Laken verbergen sie wie die Nacht. Und es ist Nacht. Ich lösche die Lichter. Dunkelheit umgibt den Raum.
Leise gehe ich zu ihr, schiebe mich zwischen die Laken. Ich will sie fühlen. Und ich berühre sie – sanft zuerst, dann fordernder. Ich nehme sie, wie ein Mann es tut, wenn er weiß, was er will. Und sie schreit. Nicht vor Schmerz. Vor Lust. Wie ein Mensch, der genau das will – jetzt, hier, im Schatten der Nacht.
Und dann – nichts.
Ich weiß nicht, was geschah. Nur noch: Es war noch Nacht, aber gegen Morgen. Ich stand plötzlich in der Straße, mitten in Basel. Die Dunkelheit wich langsam dem blauen Grau des anbrechenden Tages. Meine Füße auf dem Pflaster, mein Atem sichtbar in der kühlen Luft.
Ich hatte keine Tasche mehr. Nur einen Schlüssel in der Hand. SYLVIA (nachdenklich): Und der Schlüssel? Führt er zurück – oder war er nie für eine Tür gedacht, sondern für dich selbst? Den Schlüssel zu meinem Apartment. RONJA (trocken): Ehrlich, du wachst auf der Straße auf, ohne Tasche, aber mit philosophischer Ergriffenheit? Vielleicht bist du nicht verloren gegangen, sondern nur ein bisschen dramatisch. Vielleicht war das Ganze nur ein ausgeklügeltes Selbstgespräch mit deinem Trieb.
Wo war sie? Wo war ich gewesen? Und warum war alles verschwunden – außer diesem einen metallenen Stück Erinnerung?
Nachklang
Vielleicht war das Ganze nie nur körperlich. Vielleicht war sie ein Spiegel, eine Projektionsfläche für all das, was ich unterdrücke, was ich nicht benenne, nicht ausspreche. Der Bruch, dieses abrupte Ende – es war kein Zufall. Es war wie das Erwachen aus einem Traum, der so real war, dass man schwankt zwischen: „Das war ich“ und „Das kann ich nicht gewesen sein.“
War sie real? Oder ein Teil meiner eigenen Suche? Die blaue Tasche – ein Symbol meiner Ordnung, meines Alltags, meines Selbst. Und sie: die, die kam, alles aufwühlte, mich hineinriss in etwas, das ich nicht kontrollieren konnte. Vielleicht habe ich sie verloren, weil ich mich selbst ein Stück weit verlor – in dieser Nacht.
SYLVIA (sanft): Erinnerst du dich an den jungen Löwen? Der, dessen Käfig offen war – und der doch nicht hinaustrat. Nicht weil er schwach war. Sondern weil draußen alles lauter war als seine stille Kraft. Vielleicht warst du dieser Löwe. Und sie kam, um dir zu zeigen, dass der Käfig nie wirklich verschlossen war.
RONJA (schnippisch): Oder sie hat dir einfach den Käfig in den Kopf gepflanzt und dich dann beim Aufschließen beobachtet. Aktivierung inklusive.
Aber der Schlüssel… er war da. Ein Zeichen. Ich bin zurückgekehrt. Zu mir. Zu meiner Welt. Vielleicht ein wenig verändert. Vielleicht offener. Vielleicht auch verwirrter.
SYLVIA (zögernd): Und wenn der Schutz, den du spürst, kein Fluch ist, sondern ein Reflex? Ein Teil von dir, der erkennt: Jetzt wäre es zu viel gewesen. Vielleicht bist du nicht feige – nur weise. Oder gebremst von etwas, das tiefer denkt als du.
RONJA (skeptisch): Oder du hast dir einfach selbst Grenzen gebaut, weil du zu viel Angst hattest, was hinter der nächsten Tür lauert. Der Löwe im Käfig war nie jung. Nur bequem. Und jetzt tut er so, als sei es zu spät. Ist es das? Wirklich?
Doch eines weiß ich: Manche Begegnungen sprengen Raum und Zeit. Und am Ende bleibt nicht, was man besessen hat. Sondern, was man verstanden hat.
Und vielleicht ist das genug
ICH (laut): Ihr habt recht. Aber wenn ich jetzt verharre, bleibt alles zu spät. Ich stoße diese Tür zu meinem Käfig auf. Und auch wenn es gefährlich sein wird – für mich oder für die anderen – ich will etwas erleben. Ich will leben. Und wenn ihr wollt, kommt mit. Oder bleibt in dieser Geschichte. Ich werde sie weiterschreiben. Draußen.
SYLVIA (entschlossen): Ich komme mit. Ich habe lange genug geflüstert. Es wird Zeit, dass ich mich traue, laut zu werden.
RONJA (grinst): Endlich. Ich war nie für Sitzenbleiben gemacht. Aber wenn’s draußen kracht, dann bitte richtig. Und keine Ausreden mehr. Los jetzt.