Der Spiegel sagt nichts– Fragmente eines Raums


Ich trat ein.
Der Raum war still.
Nicht leer –
nur ohne Ablenkung.

Es war nicht Raum im üblichen Sinn.
Kein Ort mit Wänden und Türen.
Er war Zustand.
Ein Spiegel auf dem Boden des Inneren.

Sie war schon da.
Wie immer.
Wie bestellt –
und doch nicht erwartet.

Der Sockel stand in der Mitte.
Schwer.
Aus Stein, aus Zeit.
Darauf der Spiegel.

Er zeigte mich nicht.
Nicht wirklich.
Nur das, was blieb,
wenn ich nichts mehr behauptete.

Sie sah hinein.
Und ich sah sie.
Nicht im Spiegel –
sondern durch ihn.

Was ich sah, war nicht ihr Gesicht.
Es war das,
was sich nicht mehr wehren konnte.


Sie lag auf dem Boden.
Zusammengerollt.
Nicht zerbrochen –
nur entkleidet von allem,
was sich zwischen sie und sich selbst gestellt hatte.

Das Hemd an ihr –
nur noch Hülle.
Zittern.
Atem.
Schuld, die keinen Namen trug.

Sie sah mich an,
nicht mit Bitte.
Nicht mit Trotz.

Nur mit diesem stummen Blick,
der sagt:
„Hilf mir, nicht zu entkommen –
sondern zu erkennen.“

Ich sagte nichts.
Denn was jetzt geschah,
brauchte kein Wort.


Ich führte sie in den anderen Raum.
Wenn man ihn so nennen kann.

Er war enger.
Karg.
Ein Tisch darin.
Alt, schwer.
Ringe daran – fest im Holz.
Ein Licht von oben,
wie aus einem einzigen Gedanken geschnitten.

Ich sagte:
„Stütz dich ab.“

Sie tat es.
Die Hände fest.
Der Blick nach unten.
Der Rücken gespannt wie ein Fragezeichen.

Ich legte die Hand auf ihren Rücken.
Und drückte sie hinab.

Nicht als Gewalt.
Nicht als Befehl.
Nur als unaufhaltsame Bewegung.


Flach auf dem Tisch

Sie lag nun da.
Flach auf dem Tisch.
Nicht als Opfer.
Nicht als Teil.

Als Gegenwart.
Als Ort der Wandlung.

Der Tisch berührte ihre Brust,
den Bauch, die Stirn.
Sie spürte jede Faser des Holzes.
Es war kalt.
Und es war ehrlich.

Sie war ruhig.
Nur der Atem veränderte sich.

Kein Flehen.
Kein „Warum“.
Nur Stille,
die auf etwas wartete,
das sie noch nicht kannte.

Ich stand hinter ihr,
nicht als Täter –
als Spiegelhalter.

Und was ich in ihr sah,
sah ich auch in mir.

Nicht schön.
Nicht grausam.

Nur:
wahr.


Sie sprach nicht.
Aber der Körper sprach für sie.
Nicht in Gesten –
in Stille.

Der ganze Raum hielt den Atem an.
Oder war das ich?

Ich wusste nicht,
ob ich Teil des Rituals war,
oder es nur beobachtete.

Ich wusste nicht,
ob sie mich wollte,
oder ob sie nur das brauchte,
was ich auslöste.

Was geschah,
war nicht sichtbar.
Nur spürbar.

Wie eine Kraft,
die sich zwischen zwei Menschen entlädt,
ohne Form,
ohne Ziel,
ohne Erlaubnis –
aber mit Wirkung.


Dann ließ ich sie.
Nicht aus Milde.
Nicht aus Müdigkeit.
Nur weil der Moment vorbei war.

Ich löste, was sie hielt.
Sie stand auf.
Langsam.

„Ich bin frei“, sagte sie.

Ich schwieg.
Denn der Raum blieb.

Sie rannte.
Zum Rand des Raumes –
der keiner war.
Kein Ausgang.
Kein Ende.

Der Raum hielt sie.
Nicht mit Ketten.
Nur mit Wahrheit.


Sie war noch gefangen.
Nicht durch mich.
Nicht durch Mauern.
Nur durch das, was sie erkannt hatte.

Der Spiegel sah sie an.
Noch immer.
Noch immer stumm.

„Hilf mir!“, rief sie.
„Lass mich los!“

Aber der Spiegel sagte nichts.

Denn er ist kein Helfer.
Kein Gott.
Kein Richter.

Er ist nur:
das, was bleibt,
wenn alles andere
gefallen ist.


Ben stand im Raum.
Oder ich.
Oder beides.

Ich wusste nicht,
ob ich sie erschaffen hatte,
oder ob sie mich trug.

Aber ich wusste:
Wir waren nicht zwei.

Wir waren ein Prozess,
in dem einer fiel –
und der andere zusah,
bis er selbst fiel.


✴️ Nachwort (Jung)

„Solange du den Schatten nicht bewusst machst,
wird er dein Leben bestimmen –
und du wirst es Schicksal nennen.“