Die Mimose

Ein Spiel, das keine Regeln nennt. Und das genau deshalb gefährlich wird.

Einleitung

Manche Begegnungen beginnen nicht mit einem Namen.
Sondern mit einem Satz, einem Blick, einem Zustand.
Ein Thermalbad.
Eine Frau am Beckenrand, die nicht wartet.
Ein Mann, der nicht lockt, sondern erkennt.
Und eine dritte Person, die später kommt – nicht um teilzunehmen, sondern um zuzusehen. Und zu korrigieren.

Was wie ein Rollenspiel aussieht, wird zur Versuchsanordnung.
Wer führt? Wer spürt?
Und wer zieht sich zurück, wenn die Berührung echt wird?

Die Mimose ist keine Geschichte über Erotik.
Es ist eine über Kontrolle, Spiegel, Nähe –
und darüber, was geschieht, wenn jemand zu nah kommt.

Teil I – Das Thermalbad

Die Luft war warm, feucht, voller Ruhe.
Kein Lärm. Kein Chlorgeruch.
Nur die leise Brandung des künstlich angelegten Uferbeckens,
der Duft von nassem Stein, Haut, etwas Sand.
Ein Thermalbad – fast wie ein entleertes Urlaubsbild.

Ben hatte seine Bahnen gezogen.
Nicht zur Erfrischung, nicht zur Fitness –
sondern um den Körper aus dem Denken zu holen.
Gleichmäßige Züge, kontrolliertes Atmen, keine Hast.

Als er das letzte Mal auftauchte,
sah er sie.

Am Rand der Wasserzone.
Ein weißes Handtuch lag um ihre Schultern,
darunter ein dunkler, schlichter Schwimmanzug.
Ein gestreiftes Männerhemd – offen, nass an den Ärmeln –
und ein Gesicht, das nicht suchte, aber fand.

Sie saß da, als gehöre ihr der Platz –
nicht durch Anspruch, sondern durch Abwesenheit von Zweifel.

Ben kannte sie nicht.
Aber sein Blick blieb.

Er schwamm langsam auf sie zu,
legte sich an den Rand, stützte die Arme auf,
ließ das Wasser über seine Schultern laufen.

„Einer deiner Fäden möchte ich sein“, sagte er.
Leise.
Nicht gespielt.

Sie sah ihn an.
Still.
Dann lachte sie – nicht laut, eher wie jemand, der das Spiel erkennt, aber noch nicht weiß, ob er mitspielen will.

„Ich bin zu alt für Fäden“, sagte sie.
„Außerdem: Bist du reich?“
Sie meinte es nicht ernst. Oder nicht ganz.

„Wenn wir aus dieser Halle gehen, habe ich nichts“, sagte Ben.
„Nur, dass ich einer deiner Fäden bin. Und das bedeutet mir alles.“

Wieder Stille.

Dann:

„Bis der Faden reißt?“, fragte sie.

„Nein“, sagte er.
„Bis du ihn abschneidest.“

Sie stand auf, trocknete sich nicht ab.
Nur ein Blick zurück über die Schulter.

„Dann komm. Ich will sehen, wie sich das anfühlt.“

Er folgte.
Sie gaben sich keine Namen.


Umkleidekabine

Sie standen vor derselben Tür.
Er wartete.

„Du willst wirklich, dass ich in deine Kabine komme?“, fragte sie.

„Sie gehört keinem. Nur uns gerade.“
„Ich seh nicht hin, wenn du das willst.“

„Ich bin nicht schüchtern“, sagte sie.
„Aber auch nicht bereit.“

Sie zog sich um, ohne Eile.
Er wartete draußen.
Dann kam sie wieder:
Bluse über dem Schwimmanzug, Rock darübergezogen.
Nicht vorbereitet. Nur anwesend.

Draußen brannte die Sonne tief.
Sie ging voraus, wortlos.
Der Parkplatz war leer, bis auf einen großen, dunklen Mercedes.

„Der Faden – hält er noch?“, fragte sie.

„Jetzt fängt es erst an.“


Teil II – Die Fahrt

Die Tür des Mercedes schloss mit einem satten Ton.
Enrica setzte sich, ohne auf ihn zu warten.
Die Sonne war im Rückspiegel, tiefstehend, golden.

„Du kannst diese Geschichte steuern“, sagte Ben.
„Willst du Sanftheit, Rücksicht – oder willst du, dass die Küsse fordernder werden? Aus Verlangen, nicht aus Schmerz?“

Sie antwortete nicht sofort.
Ihr Blick war auf die Straße gerichtet, aber ihr Körper war ruhig, als würde sie nicht fahren – sondern warten.
Dann sagte sie:

„Du sagst schöne Dinge. Wie ein Mann, der weiß, dass er beobachtet wird.“

„Werde ich das nicht?“ fragte Ben.

Sie sah ihn an. Kurz. Nur mit den Augen.

„Später vielleicht. Noch nicht. Noch beobachte ich dich. Und ich weiß nicht, ob du es bist, den ich sehen will.“

Sie fuhr los.
Langsam, sicher.
Sie schaltete selten, aber sauber. Keine Musik. Kein Navi. Keine Richtung.
Nur Straße.
Und Zeit.


Der Halt

Irgendwo.
Wald zu beiden Seiten, kein Schild, kein Zeichen.
Nur eine Ausbuchtung am Rand, fast zugewachsen.
Sie bremste, stellte den Motor ab, ließ die Schlüssel stecken.

Ben sagte nichts.
Enrica stieg aus, streckte sich.
Der Rock rutschte leicht nach oben. Die Bluse stand offen, unaufdringlich.
Sie sah ihn nicht an, als sie sprach:

„Weißt du, was es heißt, eine Diva zu sein?“

Er wartete.
Sie fuhr fort:

„Eine Diva muss man beherrschen.
Eine, die keine Diva ist, ist langweilig.
Am Anfang hast du Lust –
am Ende ist es wie bei einem Angestellten. Routine, Abschied, Stille.“

Dann sah sie ihn an.
Jetzt direkt.
Kein Schutz. Nur Oberfläche, die etwas Tieferes trug.

„Willst du mich jetzt küssen?“ fragte sie.
„Oder wartest du, bis ich es sage?“

Ben trat auf sie zu.
Nicht schnell. Nicht zögerlich.

„Ich will es nicht steuern“, sagte er.
„Ich will wissen, wann du dich schließt.“

„Wie eine Mimose?“
Ein kleines Lächeln.

„Vielleicht“, sagte er.
„Vielleicht will ich einfach sehen, ob du bleibst, wenn ich nichts sage.“

Sie stieg auf den Rücksitz.
Er folgte.
Sie zog ihn zu sich.
Und dann –
kein Wort mehr.

Und Ben sah, wie sich in ihr etwas veränderte.
Ein Moment, in dem nicht nur Nähe passierte –
sondern Wahrheit.


Teil III – Der Bruch

Die Küsse verstummten von selbst.
Nicht, weil es genug war.
Sondern weil etwas zurückwich.

Enrica hatte sich verändert.
Nicht äußerlich.
Aber etwas in ihrer Körperhaltung wurde stiller.
Nicht weich – geschlossen.

Sie ließ von ihm ab.
Sah ihn nicht an.
Kroch zurück auf ihren Platz, nahm sich die Tasche, öffnete sie.

Ein Klick.
Das Display leuchtete blau auf in der Dämmerung.

Ben saß noch da, nicht verwirrt, nur wach.
Er hörte, wie sie tippte.
Dann sprach sie – ruhig, sachlich, fast wie bei einer Bestellung:

„Du kannst zur Hütte kommen.
Und auf uns warten.
Ja – auf uns.
Sei bitte bereit, was dann passiert.“

Stille.
Kein Blick zu ihm.
Keine Rechtfertigung.
Nur Handlung.

Sie legte auf.
Verstaute das Telefon.
Atmete einmal tief durch. Dann sah sie ihn an.

„Ich hatte vergessen, wie gefährlich du bist, wenn du nichts sagst.“


Ankunft an der Hütte

Die Fahrt war kurz.
Kein Wort fiel.

Die Hütte lag im Halbdunkel zwischen Bäumen, weitab der Straße.
Ein altes Holzgebäude, zwei Fenster, ein schiefer Schornstein.
Die Tür stand offen.
Drinnen: Licht.

Die Freundin war schon da.
Barfuß, Bikini, Haare offen, ungeschminkt.

Sie saß auf einem Stuhl, die Beine überschlagen,
trank Wasser aus einem Glas, ohne zu fragen, wem es gehört.
Sie sah sie beide nicht überrascht an.
Nur anwesend.
Wie bestellt.

„Du bist es, meine Gespielin“, hatte Enrica gesagt.
„Sie schaut nur zu. Und korrigiert.“

Jetzt wurde es real.
Jetzt war sie da.
Und Enrica trat nicht ein.

Sie blieb draußen.
Setzte sich auf die Treppenstufe.
Zündete sich keine Zigarette an.
Starrte nicht in den Wald.
Sie wartete.


Ben trat ein.
Die Freundin nickte kaum.
Ein Blick. Kein Lächeln.

Dann sagte sie, als hätte sie einen Text gelernt,
oder sich seit Tagen auf diesen Satz vorbereitet:

„Ich bin nur hier, um zu schauen, ob du bleibst.
Wenn du weißt, dass niemand dir sagt, wie du dich verhalten sollst.
Und niemand dich aufhält, wenn du gehst.“

Und irgendwo in dieser stillen Dreiecksordnung –
zwischen Blicken, Halbsätzen, der Dunkelheit, die langsam ins Holz kroch –
wurde klar:
Jetzt beginnt das Spiel.
Oder es war längst im Gange.

Teil V – Die Tür stand offen

Die Tür zur Nasszelle stand offen.
Das Licht war anders dort – heller, schärfer.
Die Fliesen glänzten, das Wasser dampfte sanft aus dem Sitzbecken.
Alba war hineingetreten, hatte sich gesetzt,
nicht fragend, nicht zögernd –
sondern mit der Ruhe einer Frau, die weiß, was sie will.

Ben war ihr gefolgt.
Still.
Nicht, weil er es musste –
sondern weil es keine Alternative mehr gab.

Sie hatte die Beine geöffnet,
ihre Hände ruhten am Beckenrand.
Sie sah ihn an,
und in ihrem Blick lag keine Aufforderung –
nur Erlaubnis.

Die Art, wie jemand sagt:

„Ich warte nicht – ich empfange.“

Ben kniete sich zu ihr ins Wasser.
Langsam.
Nicht aus Unsicherheit –
sondern, weil jede Bewegung zählen durfte.

Sie rührte sich nicht.
Sie sprach nicht.
Aber zwischen ihnen war etwas,
das nicht mehr benannt werden musste.

Er berührte sie.
Nicht tastend –
sondern sicher, warm, bewusst.
Und sie ließ es zu.
Nicht unterwürfig –
sondern als Gleichgewicht.

Was geschah,
geschah nicht laut.
Aber es war voll.
Spürbar.
Gegenseitig.

Zwei Körper.
Nicht in Eile, nicht in Besitz.
Sondern:
in einem Punkt,
der nicht mehr rückgängig zu machen war.

Und in diesem Moment –
der nicht mehr Spiel war,
nicht mehr Test –
war sie da.

Enrica.

Sie stand in der Tür.
So nackt wie sie.
Aber anders.
Nicht nah.
Nicht Teil.
Nur Gegenwart.
Und alles, was nicht ausgesprochen wurde,
lag zwischen ihren Blicken.

Ben sah sie.
Alba auch.
Aber keiner zog sich zurück.
Denn was geschehen war,
war wahr.
Unumkehrbar.
Und:
gewollt.

Enrica blieb.
Sah.
Verstand.
Und ging.

Nicht gebrochen.
Nicht leer.
Sondern:
wissend.

Schlusssatz:

Ich tue alles,
was den Faden trägt.
Und die Lust.
Denn sie ist nicht Gefahr.
Sie ist Richtung.
Und vielleicht –
sie ist der einzige Weg.
Und jeder, der sich an dem Faden hält,
ist Lust.
Und ist gut.