Der Spiegel im Flur

Ich erkenne mich

Ich stehe vor dem Spiegel.
Nicht, um zu prüfen,
nicht, um zu kontrollieren,
nicht, um mich zurechtzurücken.
Ich stehe da,
weil ich etwas sehen will,
das nicht aus Glas besteht.
Etwas, das atmet.
Das lebt.
Mich.

Ich wurde nackt geboren.
Nicht nur ohne Kleidung.
Ohne Schuld.
Ohne Rolle.
Ohne Mauern.
Ich hatte nichts,
nur ein Herz,
das nach Nähe suchte.

Und irgendwo auf dem Weg
habe ich mich geschmückt mit Masken,
verpackt in Erwartungen,
verloren in Bildern,
die nicht meine waren.
Und jetzt?
Jetzt stehe ich da,
nackt in der Tiefe,
und frage mich:

Was bleibt, wenn ich nichts mehr verberge?

Ich sehe Haut.
Brust.
Bauch.
Becken.
Ich sehe Fehler,
Formen,
Spuren.
Und ich sehe auch
die Stille,
die mich trägt.

Ich erkenne mich nicht auf den ersten Blick.
Aber ich halte ihn aus.
Ich renne nicht weg.
Ich stelle mich mir –
und bleibe.

Denn in diesem Spiegel
liegt nicht mein Körper.
In ihm liegt die Möglichkeit,
mich zurückzuholen.

Vielleicht habe ich mich nie verloren.
Vielleicht nur vergessen.
Und jetzt…
erinnere ich mich.

Ich erinnere mich,
dass ich Liebe war,
bevor ich wusste, was Angst ist.

Dass ich Zärtlichkeit war,
bevor ich gelernt habe, mich zu verschließen.

Und ich erkenne:
Ich muss es wollen.
Mich sehen.
Mich halten.
Mich begehren.
Nicht durch die Augen eines Anderen—
sondern durch meine.

Ich erkenne mich.
Nicht wie ein Spiegelbild.
Sondern wie ein Versprechen,
das ich mir selbst gegeben habe—
mich nie wieder zu verlieren.