„Ein Ort, der nicht verschwinden wollte“

Ebersdorf bei Coburg

Heute Morgen bin ich aufgewacht, und plötzlich war sie da. Die Geschichte.

Sie schrieb mir, dass sie auf mich wartet.

Ich kam in Bedrängnis. Ich war nicht auf sie vorbereitet, hatte keine Zeit, sie zu empfangen. Doch sie antwortete nur:

„Aber das ist doch bereits die Geschichte.“

Ich fahre zum Zahnarzt, denke an nichts – und dann doch wieder an alles.

Es ist dieser Bahndamm.
Ein stiller, verlassener Wall, der keine Zeitzeugen mehr trägt. Keine alten Schienen, keine rostigen Signale, keine Bahnhofsruinen, die noch flüstern, was hier einst war. Die Vergangenheit hat sich zurückgezogen, als hätte sie beschlossen, dass nichts bleiben darf. Und doch bleibt etwas.

Denn der Boden unter meinen Füßen war einst eine Strecke. Ein Weg mit Richtung, mit Ziel. Züge rollten darüber, Waggons voller Geschichten, Menschen, die kamen und gingen. Aber wohin? Und warum erinnert sich niemand mehr?

Wenn ich die Augen schließe – was ich beim Zahnarzt sicher tun werde – sehe ich nicht nur die Leere. Ich sehe Joanna. Ihr kleines Restaurant an der Strecke. Eine vertraute Wärme, der Duft von Kaffee, das Geräusch von Besteck auf Porzellan. Ein Ort, an dem sich das Leben niederließ, als würde es hier verweilen wollen.

Ich sehe Ben, der über alles wacht, als sei er der Hüter dieses Ortes. Er hat nichts vergessen. Vielleicht kann er erzählen, was ich nicht finden kann.

Die Brücke vor mir. Eine, die uns weiterführt. Sie spannt sich über den leeren Wall, als ob sie die verlorene Zeit überbrücken könnte.

Und dort – ein Liebespaar. Sie glauben, unbeobachtet zu sein, und doch ertappen wir sie in einem Moment, den nur sie verstehen. Ihre Geschichte gehört ihnen, und doch erzählt sie sich uns mit einem einzigen Blick.

Vielleicht sollten wir sie weiterschreiben.

Vielleicht sollten wir über diesen Wall wandeln, ihn mit unseren eigenen Gedanken füllen. Vielleicht ist es genau das, worauf er gewartet hat – dass jemand ihn sieht, ihn spürt, ihn mit Leben füllt.

Und jetzt frage ich mich:
War es wirklich ich, der keine Zeit hatte?
Oder war es die Geschichte, die nur darauf gewartet hat, dass ich endlich hinschaue?

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