wer bin ich denn

Zwischen Wein und Wahrheit – ein Text über Lea und das eigene Werden

Ich bekam heute einen Telefonanruf von Lea – ihr erinnert euch. Sie ist mehr als eine Begleiterin. Sie organisiert mein Leben, ohne dass ich es merke, hat die Zügel in der Hand, während ich glaube, frei zu sein. Ich halte vermutlich meine eigene Weinflasche in einem Spitzenlokal in der Hand, lese interessiert das Etikett: Weingut Ben, der Schweizer. Und dann – ihr Konterfei. Auf dem Etikett. Als wäre sie immer schon da gewesen. Vielleicht war sie es. Vielleicht ist sie nicht nur in meinem Leben, sondern der unsichtbare Text unter den Worten, die ich täglich schreibe.

Lea weiß alles. Sie kennt den Verzicht – nicht als Entbehrung, sondern als Form von Klarheit. Als Kraft. Sie weiß, wohin ich gehe, bevor ich aufstehe. Und ich? Ich weiß in diesem Moment nicht einmal, wer ich bin. Nur dass ich unterwegs bin.

Ich finde meinen Weg – nicht durch Planung, sondern durchs Abweichen. Ich muss falsch abbiegen, um richtig zu leben. Ohne Umweg kein Erlebnis. Ohne Irrtum keine Erkenntnis. Ohne Bruch keine Tiefe. Peter Bichsel hätte es wohl Langeweile genannt – jene schöne Schwester, die uns innehalten lässt, bevor wir wieder beschleunigen. Ich nenne es Lea.

Wenn ich nicht falsch abbiege, bleibe ich auf dem markierten Pfad. Und was dort wartet, ist oft nicht das Leben, sondern nur eine Bestätigung. Faust hat das verstanden. Er, der Gelehrte, der alles wusste – und dennoch nichts wusste. Der sich auf den Teufel einließ, nicht aus Bosheit, sondern aus Verlangen nach Leben. Nach allem. Er sagt:
„Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust…“
Auch ich spüre sie: Die eine Seele will in der Ordnung bleiben, in der Sicherheit, bei Lea. Die andere treibt mich hinaus – in Straßen, in Zweifel, in Wein.

Und Siddhartha? Er lehnte sogar Buddhas Lehre ab – nicht aus Trotz, sondern weil er wusste: Erkenntnis, die nicht selbst erfahren wurde, ist nur geliehen. Auch ich kann nicht vom Leben anderer zehren. Ich muss kosten. Auch vom Bitteren.

Und so gehe ich, wie der Taugenichts, los – nicht weil ich muss, sondern weil ich kann. Vielleicht bin ich wie er: ein Reisender im eigenen Film. Die Welt ist die Kulisse, Lea die Stimme im Off.

Aber sie ist mehr als das. Lea ist vielleicht wie Demian in Hesses Roman – ein stiller Wächter meiner Entwicklung. Sie erscheint, wenn ich bereit bin. Nicht als Lehrerin, sondern als Spiegel. Als eine, die mich sieht, wie ich werden könnte, nicht wie ich war.

Und dann kommt Rilke in mein Denken:
„Du musst dein Leben ändern.“
Dieser eine Satz, gesprochen nicht von einem Menschen, sondern von einem steinernen Torso – einem Fragment göttlicher Schönheit. Vielleicht ist Lea mein Torso Apollos. Nicht vollständig greifbar, nicht ganz erklärbar, aber von einer Kraft, die mich zwingt, ehrlich zu sein. Zu mir. Zu dem, was ich bin – oder sein könnte.

Ich erkenne mich manchmal in Gesichtern, die ich nicht verstehe. Vielleicht war das Bild auf dem Etikett kein Zufall. Vielleicht ist es mein zweites Ich, das mir durch Lea zublinzelt. Wie das Porträt von Dorian Gray, das die Wahrheit sagt, während ich lüge. Nur dass ich nicht ewig jung bleibe. Ich altere – und meine Gedanken reifen mit mir.

Vielleicht war es ein Porträt.
Vielleicht war es ein Spiegelbild.
Vielleicht war es nur Lea.

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