



„Der lange Rain“ – Eine Erzählung über Ben, Joanna und das, was bleibt
Ich bin aufgewacht. Einfach so. Kein Gedanke, kein Plan. Nur das weiche Laken unter mir und der langsame Übergang vom Traum ins Licht. Noch halb benommen, fast träumend, und dann – die Glocke an der Haustür. Ein Karussell begann sich in mir zu drehen. Ich war nicht bereit. Halbnackt, verschlafen, nicht für den Moment gemacht, der da plötzlich stand und klopfte.
Ich öffnete einen Spalt der Tür – und sah sie. Ein Wesen, ein laufender Engel vielleicht, oder nur eine Frau, die sich in meinen Morgen verirrt hatte. „Hallo“, sagte sie. „Ich bin Joanna, deine neue Nachbarin.“ Und so fing der Tag an.
Ich, Ben, bin keiner, der sich für gewöhnlich aus dem Takt bringen lässt. Ich lebe zurückgezogen, beobachte mehr, als dass ich mich zeige. Ein Suchender, ja, aber keiner, der laut fragt. Einer, der nicht lügt, weil Lügen zu mühsam sind, zu aufwendig zu erinnern. Ich bin nicht konstant, aber aufrichtig. Und dieser Morgen, dieser eine Moment, wurde zum Anfang von etwas, das ich nicht geplant hatte.
Ich bat Joanna herein, zog mich hastig an, während sie hinter der Tür laut bis fünf zählte. Eine Geste, wie aus einem Kinderspiel, aber sie hatte etwas Liebevolles. Ich stieß mir den Zeh am Stuhlbein, jaulte wie ein verletzter Hund – und sie lachte nicht. Sie setzte mich hin und schaute nach meinem Fuß, ganz selbstverständlich. Da passierte etwas. Nicht Lautes, nicht Grelles – aber etwas Echtes. Nähe, Zuneigung, ein leiser Anfang.
Draußen regnete es, aber sie wollte trotzdem los. Zum Lebensmittelgeschäft. Sie war neu hier, kannte die Wege nicht. Ich nahm meinen großen Regenschirm, wir schlossen die Tür hinter uns, und sie schmiegte sich an mich, als wir durch den Regen gingen. Und ja, ich bin ein Mann, ich fühlte mich in diesem Moment auch so. Nicht aus Macht, sondern aus dem Wunsch, zu schützen – nicht zu führen, sondern da zu sein.
Wir gingen den „Langen Rhein“ entlang – eine Straße wie aus der Zeit gefallen. Alt, von Bäumen gesäumt, kaum Licht in der Nacht. Und dann kam eine Baustelle. Ich wusste nicht sofort, wo wir durch sollten. Aber ich rannte nicht voraus, wie früher vielleicht. Ich hielt inne, spürte Joanna an meiner Seite. Ich entschied mich, und sie sagte: „Ich folge dir. Ich weiß nicht wohin.“
Später, nach dem Einkauf, als wir müde zurückgingen, erzählte sie mir ihre Geschichte. Von der Farm, wo sie aufwuchs. Von ihrem Vater, der sie drängte, politische Volkswirtschaft zu studieren – etwas, das nicht zu ihr passte. Sie machte es trotzdem. Dann kam ein Schweizer Tierfotograf auf ihre Farm. Eine Begegnung wie ein Sprungbrett. Sie kam nach Europa, in die Schweiz, und blieb – auch nachdem sich die Verbindung trennte. Sie begann neu. Lernte, Kunst zu machen. Gab Malkurse. Und sie erzählte mir, wie schwer es ihr fiel, sich führen zu lassen. Nicht, weil sie nicht konnte – sondern weil sie gelernt hatte, vorsichtig zu sein.
Ich hörte ihr zu, und während wir nach Hause gingen, wusste ich: Das war kein Zufall. Das war ein Kapitel, das jetzt geschrieben wurde. Nicht für immer vielleicht, aber echt.
Ich, Ben – oder wie ich manchmal selbst sage: Ich bin nicht nur der Mann, ich bin auch der Beobachter in mir. Ich sehe mein Leben als eine Aneinanderreihung von Geschichten. Abenteuer. Nicht spektakulär vielleicht, aber tief. Und ich glaube daran, dass meine Seele bleibt. Nicht ich selbst, nicht Ben – aber das Gute, das ich ihr mitgeben kann. Die Wärme. Die Erkenntnisse. Die Stille.
Wenn ich diese Seele mit etwas nähre, das anderen Menschen später helfen wird, auch wenn ich sie nie kennenlerne, dann war dieses Leben wertvoll.
Und vielleicht war dieser Morgen mit Joanna genau das: ein Tropfen ins Wasser, der Wellen schlägt, weit über den Horizont hinaus.